Textile Touches of Escape and Migration

so nah und doch so fremd

So nah und doch so fremd

Auf der Straße und in der spirituellen Tanzszene begann „Textile Touches of Escape and Migration“. Die ersten Gedanken …

Wer sind „wir“?

In den letzten Jahren skandieren Menschen vermehrt von rechter Seite auf den Straßen: „Wir sind das Volk.“ Nur, wer ist damit …

Angekommen, aber nicht (immer) willkommen

Die Ankunft der Geflüchteten 2015 wurde in den Medien oft als „Flüchtlingskrise“ bezeichnet. Die eigentliche Krise fand jedoch nicht …

Du bist, was du trägst

Wie bei fast allen Begegnungen zählt auch beim Kennenlernen zwischen Geflüchteten und Einheimischen oft der erste Eindruck …

Viele Wege führen in die Kleiderkammer

Es gibt viele Situationen, in denen Flüchtende auf neue Kleidung angewiesen sind. Hilfsorganisationen …

Der rote Faden

Kunst im Allgemeinen und Kleidung im Speziellen eignen sich hervorragend, um Emotionen, Erfahrungen und Haltungen …

warum dieses projekt?

So nah und doch so fremd

Auf der Straße und in der spirituellen Tanzszene begann „Textile Touches of Escape and Migration“. Die ersten Gedanken, die später zu diesem Kunstprojekt führten, blitzten in alltäglichen Situationen auf. Immer wieder. Sie kamen und gingen, bis sie blieben und es Zeit war, sich der Neugier, der Skepsis, der eigenen Unsicherheit zu stellen.

Der Anstoß kam aus der Ferne und von rechts

Zwei Personen haben maßgeblich zu diesem Projekt beigetragen, ganz ohne davon zu wissen: eine Frau aus der Nachbarschaft und ein Mann aus dem Bekanntenkreis. Sie kam vor nicht allzu langer Zeit und nach monatelanger Reise nach Deutschland, er wurde hier geboren. Sie wohnt jetzt ein paar Häuser weiter, er tanzt regelmäßig Contact Impro, ist Teil der hiesigen Szene. Sie verhüllt ihr Haar und ihren Körper, er wählt die AfD.

Verhüllende Kleidung und die AfD – beides sind recht neue Phänomene in Deutschland. Während schätzungsweise 300 Muslimas in Deutschland eine Vollverschleierung tragen, erhielt die AfD bei der Bundestagswahl 10,3 % aller Stimmen. Die Dimensionen sind somit sehr unterschiedlich.

Wer sind „wir“?

In den letzten Jahren skandieren Menschen vermehrt von rechter Seite auf den Straßen: „Wir sind das Volk.“ Nur, wer ist damit gemeint? Wer gehört zu diesem „Wir“? Auch die 26 % der Bevölkerung, die ihre familiären Wurzeln im Ausland haben? Auch die Menschen, die vor Krieg und Gewalt geflohen und (nicht erst) seit 2015 zu uns gekommen sind? Für das rechte Lager zählen Geflüchtete wohl kaum zu dem Volk, von dem es gerne spricht. Aber nicht nur von rechts, auch in den Medien und in breiten Teilen der Gesellschaft werden geflüchtete Menschen auf ihr Fremdsein und ihre Notlage reduziert. In vielen Köpfen hat sich so ein pauschalisiertes Bild des „Flüchtlings“ gebildet, demnach fehlt es ihm oder ihr nicht nur an Schutz und Sicherheit, sondern auch an Geld und Bildung. Einige sind gar der Ansicht, dass es Geflüchteten auch an (westlichen) Werten und Benehmen fehlt. Genau aus diesen Verallgemeinerungen, einem großen Teil Unwissenheit und zu oft auch aus Ignoranz oder einem abwegigen Überlegenheitsgefühl heraus werden die Vorurteile vom einen Facebook-Post zur nächsten Telegram-Gruppe weiter überzeichnet. So sähen sie in Teilen der Mehrheitsgesellschaft Sorge um den Sozialstaat und eine unbegründete Angst vor allem Fremden.

Dass aus Fremden Freunde und aus der Ferne eine Heimat werden können, zeigt die Menschheitsgeschichte aber immer wieder aufs Neue. Auf der Suche nach besseren Lebensbedingungen zogen und ziehen Menschen, ja ganze Völker seit jeher von einem Ort an einen anderen. Migration ist somit nichts, womit sich Menschen erst seit 2015 beschäftigen. Und auch in Zukunft werden voraussichtlich mehr Menschen ihre Heimatländer verlassen und sich auf den Weg in die EU machen. Noch viel mehr Personen werden es jedoch nie nach Europa schaffen – sie werden im eigenen Land untertauchen, in Nachbarländern Schutz suchen, an den EU-Außengrenzen abgewiesen oder gar auf der Flucht ums Leben kommen.

Angekommen, aber nicht (immer) willkommen

Die Ankunft der Geflüchteten 2015 wurde in den Medien oft als „Flüchtlingskrise“ bezeichnet. Die eigentliche Krise fand jedoch nicht in Deutschland statt, sondern in Afghanistan, in Syrien oder in überfüllten Lagern an der griechischen Küste. Es waren nicht die Menschen in Deutschland, deren Leben in Gefahr war, sondern die Menschen, die vor Gewalt, Krieg und Diskriminierung flohen, die in Moria strandeten und nicht mehr suchten als ein Leben in Sicherheit.

Nach langer Odyssee an einem neuen Ort angekommen, sind sie faktisch in Sicherheit. Was aber heißt es, wenn ein Leben in der Heimat nicht mehr lebenswert ist, wenn Freunde und Familie zurückgelassen werden mussten, wenn die Menschen um einen herum eine andere Sprache sprechen, andere Gewohnheiten pflegen und einem abfällige Blicke zuwerfen? Neben der Bewältigung der Flucht und ihrer Ursachen sind Geflüchtete mit dem Fremdsein konfrontiert. Sie müssen sich mit dem Vorgefundenen arrangieren, Kontakte knüpfen, eine neue Sprache lernen, Arbeit finden.

Du bist, was du trägst

Wie bei fast allen Begegnungen zählt auch beim Kennenlernen zwischen Geflüchteten und Einheimischen oft der erste Eindruck – geprägt durch Äußerlichkeiten. Abgetragene Stoffhose, Markenjeans, bodenlanger Rock oder Jogging-Hose – diese Nebensächlichkeiten formen ein Bild des Gegenübers. Auch wenn andere Sachen viel wichtiger sein sollten, spielt die Kleidung auf der Flucht, beim Ankommen und während der Integration eine entscheidende Rolle.

Die Kleidung ist des Menschen zweite Haut, sie dient ihm zum Schutz genauso wie zum Ausdruck seiner Identität. Beides – Schutz und Identität – sind wesentliche Faktoren, wenn es um Flucht und Integration geht. Einzelne Kleidungsstücke können auf der Flucht und auch danach mal zum Hindernis, mal zum Vorteil werden. Sich mehrere Kleidungsschichten übereinander zu ziehen bietet beispielsweise Schutz vor Regen und Kälte. Auf der anderen Seite wächst damit auch die Wahrscheinlichkeit, sich optisch als Geflüchtete*r erkennen zu geben – eine Situation, die zu mehr Übergriffen und Diskriminierung führen kann. Personen in dunkler Kleidung wiederum werden in Verstecken oder in der Dämmerung nicht so schnell entdeckt, Kleidung mit vielen Taschen eignet sich besonders, um Wertgegenstände direkt am Körper zu tragen. Gleichzeitig kann Kleidung dazu beitragen, die eigene Identität auszudrücken, abzulegen oder eine neue Zugehörigkeit zu schaffen. Schon einzelne Kleidungsstücke prägen das Erscheinungsbild oft so stark, dass sie darüber entscheiden können, eine Unterkunft zu finden oder im Restaurant bedient zu werden. Dies heißt im Klartext: Kleidung kann über das Gelingen der Flucht entscheiden. Und auch wenn Menschen auf der Flucht schon nahezu alles verloren haben, ist es gepflegte Kleidung, die sie zumindest einen Teil ihres Stolzes bewahren lässt.

Viele Wege führen in die Kleiderkammer

Es gibt viele Situationen, in denen Flüchtende auf neue Kleidung angewiesen sind. Hilfsorganisationen haben für solche Fälle einen großen Fundus an gebrauchter Kleidung, die oftmals aus Westeuropa kommt – meist aus genau den Ländern, in die es die Flüchtenden nun zieht. In Deutschland und seinen Nachbarländern wird Kleidung gekauft, getragen und gespendet, viel mehr und in immer kürzeren Abständen als nötig. Die Überreste dieses übermäßigen Konsums landen dann unter anderem in Zeltlagern an den EU-Außengrenzen, wo Flüchtende auf Hilfe und ihre Weiterreise warten.
In Kleiderkammern der NGOs sind aber auch Kleidungsstücke zu finden, die ursprünglich aus Syrien oder Afghanistan – aus den Herkunftsländern – stammen. Sind die Flüchtenden zum Beispiel vom Regen oder von den Wellen des Mittelmeers durchnässt, so tauschen sie ihre Kleider bei den Hilfsorganisationen gegen trockene. Ihre alte Kleidung wird dort von Helfer*innen gewaschen und im Anschluss wiederum anderen Schutzsuchenden zur Verfügung gestellt.

Multifunktionskleidung

Nicht allein Allwetterjacken sind multifunktional, jedes Kleidungsstück kann je nach Kontext unterschiedliche Funktionen bedienen. Eine davon ist hier bisher noch nicht genannt worden. Kleidung kann auch gesellschaftliche Strukturen abbilden und Kritik äußern, Schmerz und Hoffnung offenbaren, Erfahrungen sichtbar und Emotionen greifbar machen. Kurz: Sie kann Kunst sein. Und genau diese Funktion übernimmt sie bei „Textile Touches of Escape and Migration“.

Der rote Faden

Kunst im Allgemeinen und Kleidung im Speziellen eignen sich hervorragend, um Emotionen, Erfahrungen und Haltungen eine unzensierte Plattform zu geben und darauf aufbauend einen Dialog zu starten. „Textile Touches of Escape and Migration“ bietet ein Ventil, durch das alle Gefühle – positive wie negative, von Einheimischen wie Geflüchteten – zum Ausdruck kommen dürfen. Alle Seiten, alle Ansichten dürfen hier gleichermaßen gehört und gesehen werden. Unangenehme Gefühle dürfen unzensiert, da nicht verbal und ohne Handlung, ausgedrückt werden. Dieses Kunstprojekt bietet damit jedem und jeder einen geschützten Raum, in dem traumatische Erlebnisse, Angst, Unwohlsein, Zweifel, aber auch Neugier, (Vor-)Freude oder Glücksmomente bearbeitet und aufgearbeitet werden können.

Da sich Emotionen und Erfahrungen oft nicht eindeutig begreifen lassen und es meist noch schwieriger ist, sie in Worte zu fassen, bedienen wir uns bei diesem Kunstprojekt haptischer Materialien: Stoffe, Papiere, Knöpfe, Bänder – alles, was zu einem Kleid-Kunst-Werk werden kann, darf verwendet werden. Alles, was Emotionen und Erfahrungen ausdrückt und Anderen zugänglich macht, ist willkommen. Denn: Sich einander zu verstehen, sich kennenzulernen ist Voraussetzung für ein friedliches Miteinander – und schlussendlich auch für gelungene Integration, die nicht nur eine, sondern zwei Seiten in die Verantwortung zieht: die Menschen, die Schutz suchen, und die Gesellschaft, bei der sie diesen Schutz suchen.

Eins ist sicher, das Leben ist es nicht

Würden wir die verschleierte Frau aus der Nachbarschaft und den AfD-Sympathisant aus der Tanzgruppe fragen, was sie sich für sich selbst und ihre Familien wünschen, lägen ihre Antworten wahrscheinlich viel enger beieinander als sie es selbst vermuten würden. Auch wenn ihre Ängste sich sehr voneinander unterscheiden, würden sich ihre Wünsche im Wesentlichen gleichen. Wie wir alle würden auch diese beiden sich ein Leben in Sicherheit wünschen.